Ruthenbergsche Gewerbehöfe in Weissensee

BBWA Weissensse 2015 07 kDas normale Berliner Grundstück bildete mit Vorder- und Gartenhaus sowie Seitenflügel einen Hof, der durch eine Mauer vom Nebengrundstück getrennt war. Die restlichen Flächen waren mit Remisen, Ställen, Schuppen und niedrigen Anbauten besetzt. In der Anfangsphase der Industrialisierung bildete diese Mischung von wohn- und Arbeitsflächen eine günstige Ausgangslage für die entstehenden Gewerbe. Die jungen Firmen verfügten nur über wenig Kapital, das zur Anschaffung von Maschinen und die Lagerhaltung reichte, nicht jedoch für den Bau eigener Produktionshallen. Die günstige Ausgangslage verkehrte sich in ihr Gegenteil, als die Firmen mit der sprunghaften Entwicklung nach 1870 wuchsen.

Die beengten Raumverhältnisse verhinderten eine rationelle Gestaltung der Arbeitsabläufe. Sie bewirkten die erste Randwanderung der Industrie. Für Kapitalanleger bot die Bebauung der gesamten Grundstücksfläche mit Wohnungen höhere Renditen. das Weddinger Beispiel von Meyers Höfen in der Ackerstraße Handwerker und kleinere Betriebe mussten weichen. Hieraus entwickelte sich die Idee, geeignete Bauten speziell für gewerbliche Zwecke zu entwickeln: die Gewerbehöfe. Ausgestattet wurden sie mit maschinentragfähigen Decken (1.000 kg/m2), 4 Meter hohe Geschosse, großen Fenstern, Lastenfahrstühlen (2 t), Energieanschluss und pflegeleichter Außenhaut aus glasierten Kacheln.

Der erste dieser Höfe entstand 1865. Es folgten Dutzende bis 1910 besonders in Kreuzberg. Die Anlage von Carl Ruthenberg stand nicht unter dem Druck hoher Bodenpreise. Seine erste Firma hatte Ruthenberg in der Koppenstraße 72 im Jahr 1875 gegründet, später verlegt in die Friedenstraße 10. Er kannte also die Problematik und bezog in die Planungen für die eigene Goldleistenfabrik die Anlage eines Gewerbeparks d.h. eines Gewerbehofes in der Fläche mit 100.000 m² Nutzfläche ein. Unbebautes Gelände dafür war zwischen der Langhansstraße und der Berliner Stadtgrenze noch vorhanden. Berlin war derweil so stark gewachsen, dass hier von einer Randlage nicht die Rede sein konnte. Der Bau der Industriebahn Tegel-Friedrichsfelde stand noch in den Sternen. Seit 1894 erfolgte der etappenweise Ausbau des Geländes bis 1906. Ebenerdige Höfe wurden nur an den Ecken der Grundstücke durch einstöckige Gebäude eingerahmt, deren Obergeschosse Wohnraum für Meister und Beschäftigte boten.

BBWA Weissensse 2015 09 kDie eigene Leistenfabrik von Ruthenberg in der Lehderstraße 16 durchbrach mit der Höhe des Fabrikgebäudes und des Kesselhauses diese Maße. Die gesamte Anlage wurde mit Strom aus einem eigens errichteten E-Werk versorgt, das Ruthenberg nach einigen Jahren an die Gemeinde Weißensee verkaufte, nachdem sich die vertraglich vereinbarte Beleuchtung der Langhansstraße als praktikabel erwiesen hatte. In der Folge siedelten sich verschiedenste Firmen hier an: die Industriewerke Weißensee, die Motorenfabrik Magnet, eine Dampfwäscherei, die Schnellrundflechtmaschinenfabrik von Guido Horn, die Nahrungsmittelfabrik Hansa, die Chemischen Werke Kirchhof & Reirath, die Ziel-Abegg-Werke, die Violetta-Schokoladenfabrik von Degenbrodt, die Nigrolitwerke (Schallplatten für die Firma ODEON), die Kunstschmiede Golde & Raebel sowie die Kunstblumenfabrik von Seibt & Becker. Die Ruthenbergschen Höfe haben beide Kriege fast unversehrt überstand. Sie stehen heute unter Denkmalschutz.

Über viele Facetten der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte gibt es heute keine Unterlagen mehr. Das Wirtschaftsarchiv hat die Aufgabe, Unterlagen zur Berliner Wirtschaft zu sichern und für die Nachwelt zu erhalten. Hinweise hierzu sind herzlich willkommen.

 

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Text: K. Dettmer